Vielen von uns, mich eingeschlossen, scheint es, als vergehe mit zunehmendem Alter die Zeit immer schneller. Als wir jung waren, warteten wir dagegen ungeduldig darauf, bestimmte Altersgrenzen zu überwinden, und unser Leben schien unendlich.
Warum sich unsere Wahrnehmung der Zeit mit dem Alter ändert, beschäftigt Philosophen und Psychologen seit mehr als hundert Jahren. Psychologische Tests haben gezeigt, dass im Lauf eines Lebens die Zeit auf einer nicht linearen Skala zunehmend schneller vergeht – dass Menschen die Zeitspanne zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr als ähnlich lang wahrnehmen wie die zwischen dem 20. und 40. oder dem 40. und 80.
Eine Idee, warum dies der Fall sein könnte, ist, dass wir die Zeit als relativ zu unserer Lebenslänge betrachten – eine Theorie, die der französische Psychologe Pierre Janet erstmals 1877 vorschlug. Ein Jahr entspricht zwanzig Prozent des Lebens eines 5-Jährigen, und von einem Weihnachtsfest bis zum nächsten vergeht ein guter Bruchteil eines so jungen Lebens. Ein Jahr ist aber nur zwei Prozent des Lebens, wenn man 50 ist, und man ist schockiert, dass es so schnell vergangen ist.
Auch Neurotransmitter und Medikamente beeinflussen die Zeitwahrnehmung. Eine andere Theorie verbindet die Wahrnehmung der Zeit damit, dass der Neurotransmitter Dopamin nach dem 20. Lebensjahr kontinuierlich abnimmt. Chemikalien, welche Neuronen anregen, sodass diese schneller feuern, könnten die Zeit verlangsamen, weil sie unserem Gehirn erlauben, in einer bestimmten Zeitspanne mehr Erinnerungen zu bilden. Dies könnte auch erklären, weshalb sich die Zeit in Notfallsituationen oder bei Gefahr zu verlangsamen scheint.
Ein ähnliches Phänomen könnte erklären, warum im Alter die Zeit schneller vergeht als in der Jugend. Basierend auf den Ideen des Psychologen William James aus dem 19. Jahrhundert glauben viele, dass das Gehirn aus neuen Erfahrungen mehr Erinnerungen bildet. Da man später im Leben weniger neue Erfahrungen macht, scheint die Zeit schneller zu vergehen. Mit anderen Worten: Das Leben wird mit zunehmendem Alter immer langweiliger. Wenn Sie Ihr Leben also als lang und erfüllt wahrnehmen wollen, halten Sie Ihr Gehirn aktiv, lernen Sie neue Dinge – und sitzen Sie nicht nur herum und tun nichts.
Es gibt viele andere Theorien: Für einen 50-Jährigen scheint die Zeit schneller zu vergehen als für einen 25-Jährigen, weil Ersterer mehr Verantwortung im Leben und auf der Arbeit hat und der Tag nie lang genug ist, um alles zu erledigen. Mit zunehmendem Alter verlangsamt sich zudem unser Stoffwechsel – Kinder erfahren in einem festgelegten Zeitraum mehr biologische Marker wie Herzschläge oder Atemzüge, wodurch das Gefühl entstehen könnte, dass mehr Zeit vergangen ist.
Und laut einer weiteren Theorie, die jüngst veröffentlicht wurde, meinen wir, die Zeit vergehe schneller, einfach weil unser Gehirn altert und wir weniger Ereignisse verarbeiten können, weil unser neuronales Netzwerk stets komplexer wird und sich zugleich verschlechtert. Der angebliche Beweis dafür ist die Geschwindigkeit, mit der unsere Augen sich zwischen der Aufnahme von Bildern der Welt hin und her bewegen. Diese sogenannten Sakkaden des Auges sind in jungen Jahren schneller.
Quelle: Die Storys des Tages #12